Biblische Hermeneutik

Der Umgang mit der Bibel ist heute geprägt von einer Vielfalt von Aus­legungsmethoden; jede von ihnen eröffnet neue Perspektiven, stößt aber auch an Grenzen. Ausgangspunkt wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Bibel ist die historische-kritische Exegese (Auslegung), die in verschiedenen methodischen Schritten den Entstehungsprozess einer biblischen Schrift zu rekonstruieren versucht. Sie wird ergänzt durch andere vorwiegend historisch akzentuierte Zugänge: So kann die Bibel religionsgeschichtlich untersucht werden, indem z. B. archäologische Funde und Texte aus der Umwelt herangezogen werden. Dadurch werden  gegenseitige Einflüsse, aber auch Abgrenzungen deutlich. Die sozialgeschichtliche Exegese untersucht die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und Interessen, die den biblischen Texten zugrundeliegen (z. B. beschreibt sie die Jesusbewegung im Kontext römischer Herrschaft).
Als Gegengewicht zur historischen Exegese, der mitunter vorgeworden wird, sie zerpflücke den Text zu sehr und verliere angesichts der Vielzahl ihrer Hypothesen die Glaubensbedeutung der Bibel aus dem Auge, sind Zugänge entwickelt worden, die den Text bewusst als Einheit nehmen.
Die kanonische Bibelexegese geht vom kanonischen Endtext als dem allein verbindlichen Verstehensrahmen aus und betont damit gegenüber der historisch-kritischen Exegese die Wichtigkeit einer gesamtbiblischen Perspektive. In der Regel betrachtet sie den Entstehungsprozess, der zu dieser Endgestalt geführt hat, als inspiriert. Intertextuelle Bezüge (z. B. Doppelungen, Verbindungen, Spannungen zwischen verschiedenen biblischen Texten) werden nicht historisch erklärt, sondern (wie bei einem Buch eines Autors) synchron gedeutet. Kanonische Bibelauslegung kann, muss aber nicht in die Nähe eines fundamentalistischen Bibelverständnisses geraten. Sie würdigt die Bibel in ihrer Endgestalt als vielstimmigen Diskurs und kann so eine wertvolle Ergänzung zur historisch-kritischen Exegese sein.
Literaturwissenschaftlich und linguistisch orientierte Methoden untersuchen sehr präzise die grammatische und formale Struktur eines Textes.
Andere hermeneutische Zugänge nehmen den Rezipienten / die Rezipientinnen und ihre Erfahrungen noch stärker in den Blick. So fragt die wirkungsgeschichtliche (rezeptionsgeschichtliche) Exegese, welche unterschiedlichen Deutungen, Bearbeitungen, Fortschreibungen ein Text in unterschiedlichen historischen und persönlichen Kontexten freigesetzt hat.
Die tiefenpsychologische Interpretation entdeckt in den biblischen Geschichten Urbilder seelischer Erfahrungen und setzt auf die heilende Wirkung der Beschäftigung mit solchen Traditionen (so wird z. B. die Exodustradition als eine Symbolisierung des schwierigen Befreiungsprozesses verstanden, den jeder Mensch, z. B. beim Erwachsenwerden, durchmacht).
Die befreiungstheologische Bibelexegese hat ihren Ursprung in Lateinamerika. Biblische Texte werden aus der Perspektive der Armen und Unterdrückten gelesen; die Begegnung mit den Befreiungs- und Hoffnungstraditionen der Bibel mündet konkret in politischen Widerstand. Als eine Spielart befreiungstheologischer Exegese kann man die feministische Bibelauslegung sehen. Sie versucht, in den in einer patriarchalischen Gesellschaft entstandenen biblischen Texten die verdrängte Frauenperspektive (wieder) sichtbar zu machen.