Wie geht es Gott?

von Rainer Bayreuther

 

Wie geht es Gott? Die Frage nimmt erstens einen Gott an, der nicht stoisch immer derselbe ist, sondern der in bestimmten Umständen existiert, an ihnen teilhat und in seinem Befinden von ihnen nicht unabhängig ist. Sie nimmt zweitens an, dass es für uns Sterbliche Stellen in der Welt gibt, an denen wir Gottes Befinden diagnostizieren können, so wie ein Arzt das Stethoskop an eine bestimmte Stelle halten muss, um etwas über die Befindlichkeit eines Organs zu erfahren.
Beide Annahmen sind tief im Fundament der christlichen Religion eingebaut. So tief, dass sie in unserer spätkirchlichen Wirklichkeit manchmal fremd scheinen. Für die es aber mit Weihnachten ein Fest gibt, das sie uns unerbittlich in Erinnerung ruft, den Stall von Bethlehem einmal als eine solche Stelle im Weltenlauf begriffen, an der Gott zur Erscheinung drängte und dieses Erscheinen radikal von den dortigen prekären Umständen abhängig war.
Der Gott von Bethlehem ist nicht der allzeit überlegene universale Weltenlenker, bei dem die Frage, wie es ihm geht, einfach sinnlos wäre. Genau das ist er nicht, wenngleich manche Dogmatiken ihn so denken. Von welchen Umständen im Weltenlauf ist sein Befinden abhängig? Ich nenne drei Beispiele aus drei verschiedenen Religionen, weil ich glaube, dass uns die außerchristlichen Religionen wichtige Fingerzeige geben, wie wir die Religion des Jesus von Nazareth verstehen müssen.
Im alten Ägypten glaubte man, die Toten könnten einem Gott gleich werden oder, anders gesagt, das Göttliche, das schon zu Lebzeiten in ihnen schlummert, könne nach dem Tod zur vollen Entfaltung kommen. Das kann gelingen oder auch scheitern. Der Verstorbene hatte einen schwierigen und gefahrvollen Weg bis zur Göttlichkeit zu bewältigen. Da war es eine Hilfe, eine schriftliche Anleitung zur Verfügung zu haben, die beschrieb, welche Stationen aufeinander folgen und was es im Detail zu tun gilt. Genau das beinhalten die hieroglyphischen Inschriften auf den Särgen und Schreinen, und zwar auf den Innenwänden, so dass sie vom Totenbett aus gelesen werden können. Aus dieser Praxis ergibt sich eine Antwort darauf, wie es Gott geht: je nachdem, wie gut der Tote den Weg zur vollkommenen Göttlichkeit bewältigt. Und das wiederum hängt daran, wie präzise der Weg in den Inschriften beschrieben wird, wie genau der Tote sie liest und ausführt. Merke: das minutiöse Performen von heiligen Skripten lässt die Göttlichkeit Realität werden.
Im alten Griechenland glaubte man, dass die Götter bestimmte Stellen auf Erden haben, an denen sie sich bevorzugt aufhalten. Je nachdem, wie die Bedingungen dort sind, fühlen sie sich wohler oder unwohler. Sind sie unwirtlich, und das ist für die Griechen gleichbedeutend mit: allzu menschlich, dann flieht der Gott oder stirbt sogar. Der Gräzist Walter F. Otto beschrieb es so: „Es ist doch wahr […]‚was die Alten geschaut und gedacht hatten! Die heilige Stätte redet. Mir ist als hörte ich die Flöte des Pan. Sie ist ja die Stimme der Stille. Und es macht keinen Unterschied mehr, ob unser äußeres Gehörorgan einen Schall vernimmt oder nicht. Es könnte hier eine Nymphe lachend vorbeischweben, mich würde es nicht wundern. […] Wir brauchen doch nur den Wald auszuroden und den ganzen Hügel abzutragen – wer hindert uns daran? – Und alles ist verschwunden. Was sind das für Götter, die so leicht vertrieben werden können?’“ Das sagte jemand, der selber in Griechenland war, die alten Orakelstätten und Tempelbauten gesehen hatte beziehungsweise das, was die Tourismusindustrie Stand 1960er Jahre daraus gemacht hatte, der sicher auch durch den Athener Stadtteil Kolonos gegangen war, ein schmutziges, überbevölkertes Viertel, wo aber einst der heilige Hain der Eumenidengöttinnen stand, die in wildem Wein und Olivenbäumen wohnten und denen man begegnen konnte, wenn man vorsichtig und aufmerksam dorthin ging und dem Rauschen den Windes durch die Blätter lauschte. Merke: Es kommt darauf an, die Stelle eines Gottes sensibel wahrzunehmen und sie so zu belassen, dass der Gott dort zur Erscheinung kommen kann.
Im Matthäusevangelium ist eine Rede Jesu über ein finales Weltgericht wiedergegeben, bei dem die Menschen in zwei Gruppen geschieden werden. Die einen, und sie gehen gerettet aus dem Gericht hervor, haben Jesus zu essen gegeben, als er hungrig war, zu trinken, als er durstig war, ihn aufgenommen, als er fremd war, ihn gekleidet, als er nackt war, ihn gepflegt, als er krank war, ihn besucht, als er gefangen war. Auf ihre verwunderte Frage, wann das gewesen sein soll, sagt Jesus, sie hätten es seinen geringsten Brüdern getan und damit ihm selber. Die anderen, und sie trifft der Fluch des Gerichts, haben all das nicht getan. Ihre Ausrede, sie hätten es ja doch gemacht, wenn sie den göttlichen Jesus höchstselbst vor sich gehabt hätten, hilft ihnen nicht. Sie haben nicht bemerkt, wie es Gott geht, weil sie die Stelle nicht bemerkt haben, an der er sich aufhält. Merke: Gott ist (auch) dort, wo nicht Gott draufsteht und wo Praktiken der Barmherzigkeit stattfinden, denen man ihre Göttlichkeit nicht ansieht.
Man müsste „lesen“ können (im Sinn der Ägypter, die ihre Sarginschriften lasen, oder der Griechen, die den Aufenthalt eines Gottes lasen), wo Gott ist. Dann erst bemerkt man ihn, dann erst kann man den Ort schonen, so dass es Gott gut geht. Gesucht daher zur Beantwortung der Frage: eine Theologie, die die Orte Gottes um anno 2022 „lesen“ kann.

Rainer Bayreuther, Jahrgang 1967, lehrt Musikwissenschaft an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik in Bayreuth. 2021 erschien von ihm bei Claudius Der Sound Gottes. Kirchenmusik neu denken.